Wie Logistik das Potenzial der Digitalisierung maximiert

Die digitale Transformation hat die Automobilindustrie fest im Griff. „Smart Factory“ lautet das erklärte Ziel vieler Fahrzeughersteller – doch der Weg dorthin ist lang. Zu uneinheitlich sind die Prozesse zwischen den verschiedenen Beteiligten oftmals noch, um eine echte Vernetzung digitaler und physischer Technologien im Sinne von Industrie 4.0 zu schaffen. Hier agiert die Automobillogistik als wichtiges Bindeglied zwischen Zulieferern und Erstausrüstern.

In der Automobilindustrie ist Industrie 4.0 das Trendthema schlechthin. Schließlich liefert die intelligente Vernetzung von Maschinen und Prozessen perspektivisch Mehrwerte für die gesamte automobile Wertschöpfungskette – ob in der Produktion, im Vertrieb oder im After Sales. Eine wichtige Rolle nimmt dabei die Logistik ein. Sie unterstützt Fahrzeughersteller und Erstausrüster (OEM) bei ihren Herausforderungen und trägt dank maßgeschneiderter Lösungen zur Weiterentwicklung der Branche bei. Laut Mercedes-Benz geht eine smarte Logistik „von der Fahrzeugkonfiguration und -bestellung des Kunden über die Teilebedarfsermittlung und Beschaffung bis hin zur Produktion und Auslieferung.“ Visionär formuliert: „Ein bestelltes Fahrzeug sucht sich seine Produktionsstätte und Maschine selbst.“ – Doch wo stehen Automobilhersteller angesichts dieser Vision aktuell und welches Potenzial steckt in der Vernetzung aus Sicht des Logistikdienstleisters?

Herausforderung einer durchgängigen Digitalisierung

„Aus Sicht der Logistik ist die hauptsächliche Herausforderung der Automobilindustrie, eine durchgängige Digitalisierung zu schaffen“, sagt Florian Karlstedt, Projektmanager bei Rhenus Automotive SE. „Das bedeutet, sowohl die Teile für die Produktion als auch die verschiedenen Dienstleister – ob Lager oder Spedition – digital erfassbar zu machen.“ Damit das möglich ist, muss eine entsprechende Grundlage geschaffen werden: zum Beispiel die Ausstattung sämtlicher Fuhrparks mit Telematik für ein Live-Tracking der Fahrzeuge oder die Sensorik im Lager zur Erfassung von Millionen Paletten. Das grundlegende Ziel dieser Maßnahmen ist eine vollständige Transparenz: Wo befindet sich welche Information oder welches Teil meiner Lieferkette in Echtzeit? Doch diese Frage können die meisten OEMs in der Regel noch nicht beantworten.

Ziel: Transparenz entlang der Supply Chain

Aktuell überwiegt oft noch das manuelle Handling vieler Prozesse – sei es der Anruf beim Spediteur zur Standortabfrage oder der Gang durch das Lager für die Inventur. Hinzu kommt: Aufgrund der hohen Eingangsinvestitionen werden viele Maschinen und Lagersysteme relativ lange betrieben. All das reicht zwar für die reibungslose Abstimmung zwischen den einzelnen Produktionsschritten, erschwert aber eine vollumfassende Vernetzung. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn verschiedene Zulieferer zu integrieren sind und die Schnittstellen dies aufgrund von Medienbrüchen nicht ermöglichen. Zudem ist die Stammdatenqualität oft nicht gut genug, um die nötige Transparenz entlang der Supply Chain zu schaffen. Dass Ersatzteile häufig noch in manuellen Listen gepflegt werden, macht die Prognostizierung des tatsächlichen Bedarfs der einzelnen Produkte und Geografien sehr schwierig. Das Resultat: Die Teile sind in der Lieferkette schwer identifizierbar und die Datenverwaltung zwischen Lieferant und Hersteller funktioniert aufgrund der mangelnden Verbindung zu Maschinen im Feld auch nicht richtig.

Resilienz und Unabhängigkeit von Lieferketten ist gefragt

Im Rahmen der Coronakrise hat jedoch ein Umdenken begonnen: Angesichts der nachhaltig gestörten und anfälligen Lieferketten streben viele OEMs an, resilienter und unabhängiger gegenüber der Situation am Markt zu sein. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem der Ausbau von lokalen Lagerkapazitäten oder die Sourcing-Entscheidung für europäische Lieferanten, um bei kritischen Elementen die Wertschöpfung zurück in die Region zu verlagern. Auch der transparente Informationsfluss innerhalb des weit verzweigten Lieferantennetzwerks bringt den OEMs perspektivisch einen echten Mehrwert.

Durch ein Lieferanten-Netzwerk-Management könnten wir Lieferengpässe frühzeitig erkennen und schnell deeskalieren oder Ausweichlösungen planen.
Florian Karlstedt | Projektmanager bei Rhenus Automotive SE

Das Sammeln und Analysieren großer Datenmengen

Damit das Potenzial einer Vernetzung voll ausgeschöpft werden kann, sollten OEMs die Datenerfassung systematisch angehen: Dazu gehört, sukzessive die Altbestände und Maschinenparks zu digitalisieren und bei Neuinvestitionen das Thema Digitalisierung von vornherein als Anforderung zu verstehen. Hier bietet sich ein bislang oft vernachlässigter Bereich an: das Erheben und Analysieren von Big Data, sprich, von sehr großen, komplexen und schnelllebigen Datenmengen. Diese kommen aus verschiedensten Quellen, zum Beispiel von Logistiksystemen und Montageeinrichtungen, und werden zunächst ungefiltert gesammelt. Setzt man Daten wie Aktivitäten und Bestandsressourcen, Produktivität und verarbeitete Mengen in Relation, wird sichtbar, wie sie sich täglich verändern und inwieweit diese Veränderungen vorhersehbar sind.

Big Data ermöglicht Predictive Maintenance und Prozesskontrolle

Big Data sind für Teilbereiche nutzbar, die zur Gesamtheit von Industrie 4.0 beitragen. Ein Beispiel ist Predictive Maintenance, also die vorausschauende Wartung. Durch das Überwachen des Stromverbrauchs einzelner Komponenten wie Motoren werden Abweichungen, zu große Widerstände oder Spannungsspitzen nachvollziehbar. Der Hersteller kann somit noch vor dem Ausfall des Teils den Mitarbeitern in der Wartung Bescheid geben. Zudem tragen über Big Data nachweisbare Schwierigkeiten in der Montage zu einem verbesserten Qualitätsmanagement bei. Auch die regelmäßige statistische Prozesskontrolle profitiert von den Mustern, die sich in der Datenanalyse abzeichnen: Die Verantwortlichen erkennen beispielsweise, dass ein Prozess zwar noch annehmbare Produkte liefert, jedoch allmählich instabil wird und damit die Tendenz hat, langfristig Probleme zu bereiten.

Logistikdienstleister bieten OEMs diverse Mehrwerte

Auf dem Weg zur smarten Vernetzung sämtlicher Supply-Chain-Bereiche müssen alle Beteiligten eng zusammenarbeiten. Eine wichtige Rolle nehmen Logistikdienstleister ein. Sie übernehmen als Outsourcing-Partner diverse Services zwischen den typischen Teileherstellern aus First und Second Tier sowie dem OEM. Dazu gehören die Versorgung von Fertigungs- und Montagestandorten, die Lagerbewirtschaftung, die Konsolidierung und der Transport von Teilen aus den Lieferantennetzwerken. Dazu kommt die Sequenzierung und Aufbereitung von Teilen im entsprechenden Zeitfenster (just in time) und in der Fertigungssequenz (just in sequence). Das unterstützt die OEMs dabei, eigene Mitarbeiter zu entlasten, Ressourcen anderweitig zu nutzen und Einsparungen zu erzielen. Mit Modulmontagen kann der Logistikdienstleister angesichts steigender Dieselpreise dazu beitragen, den Bedarf an Lkw zu reduzieren. Komplettmodule, die er nah am Werk aufbaut, sparen im Vergleich zu Einzelteilen zwischen 50 und 80 Prozent an Platz. Das sind nur zwei Beispiele, wie Dienstleistungen dazu beitragen, die Logistiknetzwerke für den OEM deutlich zu verschlanken.

Rückverfolgbarkeit in der automobilen Lieferkette

„Wir haben den vollen Überblick über den Materialfluss, Output jeder einzelnen Station und den Zustand der Maschinen. Durch das Dokumentieren der Prozessschritte über SPS-Schnittstellen, aber auch den gezielten Einsatz von smarter Bild- und Videokontrolle der Prozesse wissen wir, welche Parameter bei welchem Prozessschritt und final in das Endprodukt eingeflossen sind. Diese Daten stellen wir unseren Kunden grundsätzlich bei Bedarf zur Verfügung“, so Florian Karlstedt. Im Fall einer Störung beim Auto – zum Beispiel durch einen fehlerhaften Prozess – kann der Logistikdienstleister auf diese Weise die Ursache nachvollziehen. Waren die Schrauben richtig angezogen und welche Drehmomentverläufe gab es? Der OEM erhält so eine saubere Rückverfolgbarkeit für den Fall, dass es zum Regress kommt, und vermeidet im Normalfall den Rückruf. Ist nämlich keine saubere Digitalisierung vorhanden, müssten theoretisch alle Fahrzeuge, die innerhalb dieses Zeitraums gebaut worden sind, kontrolliert werden. Mit der Datenerfassung kann der OEM dies ausschließen bzw. rückwirkend die Maßnahmen auf die betroffenen Fahrzeuge eingrenzen.

Informationsmanagement macht Daten nutzbar

Um Industrie 4.0-fähig zu werden, bedarf es allerdings nicht nur der Daten an sich, sondern auch der Möglichkeit, diese Daten nutzbar zu machen. Hier unterstützen Logistikdienstleister die OEMs mit entsprechenden Lösungen aus dem Informationsmanagement. Dazu gehört Software für den elektronischen Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Systemen. Das Production Traceability System (PTS) des Logistikdienstleisters Rhenus beispielsweise bearbeitet eintreffende Aufträge und weist sie einer Station zu. Die damit verknüpften Soll-Werte werden mit den Prozessparametern verglichen. So wird unter anderem sichtbar, ob Arbeitsschritte innerhalb der vorgegebenen Toleranzen erfolgt sind. Ist dies nicht der Fall, sperrt PTS das Teil. Die Mitarbeiter müssen dann entsprechend nacharbeiten oder einen Austausch durchführen. Das Warehouse Management System (WMS)  fungiert schließlich als Klammer um den gesamten Materialfluss.

Ausblick: langfristige Wettbewerbsfähigkeit für Hersteller

Denkt man die strategische Nutzung von Daten aus Fertigung und Logistik weiter, steuern sich in einer idealen Automobilproduktion Teile selbst durch die Fabrik – Stichwort „Smart Factory“. Der OEM weiß zu jeder Zeit: Wie viele Teile sind auf Lager, in der Fertigung, im Sperrbestand oder im Transit? Wie viele Teile hat der Lieferant tatsächlich geliefert? Woran liegt es, wenn ein eklatanter Unterschied in der Leistung zwischen Früh- und Spätschicht besteht? Im Zuge dessen lassen sich Schwachstellen oder Ineffizienzen im Prozess aufdecken. Engpässe sind bekannt, noch bevor sie tatsächlich am Band entstehen. Grundsätzlich lassen sich Qualitätsschwankungen und Anlagenstillstände präventiv verringern oder sogar ganz verhindern.

Auch gegenüber den Kunden ließe sich die Servicequalität auf diese Weise steigern. Werden Fahrzeuge mit einer gewissen Ausstattung in Auftrag gegeben, kann der Vertrieb Lieferzeitpunkte exakt bestimmen. Ein Beispiel: Von einer Sonderkomponente sind im Werk Hamburg noch zehn Stück auf Lager. Da alle zehn schon verplant sind, müsste eine für den Auftrag nachbestellt werden. Im Werk München sind allerdings noch freie Teile im Bestand. Der Kunde erhält die Auskunft, in wie vielen Wochen das Teil je nach Werk verfügbar wäre. Andersherum gedacht, lässt sich so gegenüber dem Kunden transparent die Lieferzeit in Abhängigkeit von seiner Ausstattung darstellen, sodass dieser individuell abwägen kann, inwieweit er für einzelne Ausstattungsoptionen zusätzliche Wartezeit in Kauf nehmen möchte. Diese Transparenz und Flexibilität sichern den Herstellern auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Zukunftsfähigkeit und sichern einen Platz als digitaler Vorreiter am Markt.

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Die Rhenus Gruppe realisiert Automobillösungen von der sequenzierten Teilebereitstellung bis hin zur Montage einbaufertiger Module und kompletter Fahrzeuge.

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